Mein Aha-Erlebnis der Woche
Ich habe eine Aufgabe für Dich: Multipliziere 8 388 628 im Kopf mit 2.
Nicht so einfach, oder? Das Verrückte ist:
Es gibt ein Kind, das siebenstellige Zahlen innerhalb weniger Sekunden 24-mal hintereinander korrekt verdoppeln kann.
Ein anderes Kind kann Dir jederzeit die exakte Uhrzeit nennen, ohne auf die Uhr zu schauen.
Und ein weiteres Kind zeichnet mit sechs Jahren Bilder, die so lebensecht sind, dass sie in einer Galerie an der New Yorker Madison Avenue ausgestellt wurden.
Klingt nach Hochbegabung. Nach Genies. Nach Menschen mit einem extrem hohen IQ.
Aber: John Medina beschreibt in seinem Buch „Gehirn und Erfolg“, dass keines dieser Kinder einen IQ über 50 hat. Und dass man keinem von ihnen beibringen kann, sich die Schuhe zu binden. Keines dieser Kinder kann seinen Alltag selbstständig meistern.
Das ist keine inspirierende Diversity-Story. Und auch kein Plädoyer für Neurodiversität.
Das ist eine unbequeme Realität.
Sie zeigt: Unser Gehirn kann in einzelnen Bereichen extrem leistungsfähig sein und in anderen dramatisch schwach. Nicht „anders begabt“. Nicht „herausgefordert“.
Sondern schlicht: schwach.
Das widerspricht der beliebten Vorstellung, Intelligenz sei etwas Ganzheitliches. Eine Art Persönlichkeitsmerkmal. Oder eine Ressource, die man mit dem richtigen Mindset freilegen kann. Diese Vorstellung ist nicht nur falsch, sie ist bequem. Denn sie erlaubt zwei gesellschaftlich sehr akzeptierte Reaktionen:
Entweder die Selbstabwertung („Ich bin halt nicht intelligent“).
Oder die Selbstentlastung („Ich bin halt auf dem Autismus-Spektrum“).
Beides klingt zeitgemäß.
Beides klingt verständnisvoll.
Beides verhindert Veränderung.
Gerade im Alltag und besonders im Arbeitsleben zeigt sich das deutlich. Viele Menschen scheitern nicht an mangelnder Begabung, sondern an konkreten Defiziten: fehlender Struktur, schlechter Priorisierung, mangelndem Fokus, schwacher Entscheidungsfähigkeit, fehlender Motivation.
Heute nennt man das gern:
Überforderung.
Reizüberflutung.
Mentale Belastung.
Oder emotionale Dysregulation.
Das mag alles zutreffen. Aber es löst kein einziges Problem.
Denn diese Begriffe entschuldigen viel und verlangen wenig.
Dein Gehirn ist, wie es ist. Das darfst und musst Du akzeptieren. Aber Selbstakzeptanz ist kein Ersatz für Selbstverantwortung.
Wenn Du weißt, dass Du Dir Dinge schlecht merken kannst, reicht Selbstfürsorge nicht. Dann brauchst Du Systeme.
Wenn Du weißt, dass Du Dich leicht verzettelst, reicht Entschuldigen nicht. Dann brauchst Du klare Prioritäten.
Und wenn Du weißt, dass Du Aufgaben regelmäßig falsch einschätzt, dann ist das eine Schwäche, an der Du arbeiten musst.
Nichts tun und sich auf irgendwelchen (pseudo-)psychologischen Bezeichnungen auszuruhen, ist keine Option. Auch Deine Diagnose (ob Asperger oder was auch immer) zu Deiner Identität zu machen, hinter der Du Dich ein Leben lang verstecken kannst, ist keine Option.
Nicht jedes Gehirn ist für alles gemacht. Aber jeder trägt Verantwortung dafür, seine eigenen Grenzen ernst zu nehmen, daran zu arbeiten und sich nicht hinter wohlklingenden Begriffen zu verstecken.
Wie das im konkreten Fall aussehen kann, zeigt folgendes Paar, deren Auftritt ich gestern Abend im Winterzirkus „Salto“ aufs Höchste bewunderte. Statt sich hinter ihrer körperlichen Einschränkung zu verstecken, zeigt dieses Paar, dass sie sich durch nichts bremsen lassen: